Samstag, 26. Juni 2010

Stellen die Thesen uns auf neue Herausforderungen ein?

Das ist ihr Anspruch. Die ersten vier Abschnitte beschäftigen sich mit der Analyse der Krise und Auswegen daraus, mit der ökologischen Krise, mit Veränderungen in der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung.
In diesen Abschnitten findet man viel Richtiges und daneben vieles, worüber unsere Partei schon länger streitet, wie z. B. die Interpretation von Imperialismus, Neoliberalismus und Globalisierung. Oder auch die Position zu unserem Verhalten bei überregionalen Wahlen. Die Diskussion über diese bekannten Differenzen fortzusetzen, wäre schon seit Langem nötig gewesen und bleibt nötig.
Die Thesen gehen in diesem analysierenden Teil von einem bestimmten Schema von Globalisierung aus. Dieser Rahmen wird aufgefüllt mit Aussagen zum Neoliberalismus, zur Krise und zu möglichen Auswegen daraus. Dabei wird eine Reihe von Begriffen eingeführt, die nicht näher erläutert werden.
Etwa der häufig gebrauchte Begriff des „herrschenden Blocks.” So bezeichnete Antonio Gramsci bestimmte Bündnisse sozialer Klassen und Schichten, die die Macht der herrschenden Klasse stützen. Er interessierte sich für die Klassen und sozialen Kräfte, die einen „herrschenden Block” ausmachen, nicht zuletzt, um Möglichkeiten für Kräfteverschiebungen zu erkunden, mit denen Spielraum zugunsten der Arbeiterklasse entstehen kann. In den Thesen wird über die Klassenkräfte des „herrschenden Blocks” nichts gesagt. Der Begriff wird als Leerformel benutzt. Die bisher übliche Formel für „die da oben”, das „transnationale Kapital” taucht dagegen in den Thesen nur noch an einer Stelle auf. Würde der „herrschende Block” mit sozialem Inhalt gefüllt, so könnte man dies als Fortschritt sehen. Da er leer bleibt, bleibt auch die Unklarheit

Weiteren Begriffen in den Thesen, die nicht definiert werden, geht es ähnlich. Das provoziert Fragen, auch Erregtheit. Es ist ein Jargon der Vieldeutigkeit, manchmal auch der Doppeldeutigkeit, der nicht alle Teile unserer sozial, kulturell und regional sehr vielschichtig zusammengesetzten Partei anspricht.
Dabei ist es doch eine der Stärken der DKP, dass sie Mitglieder aus mehreren Generationen, Arbeitslose und Gewerkschafter, Alleinerziehende, Hartz IV-Bezieher, Studierende und Schüler, Westdeutsche und Ostdeutsche, Arbeitsimmigranten umfaßt. Solange wir sozial so ähnlich zusammensetzt sind, wie die heutigen, sehr differenziert zusammengesetzten Lohnabhängigen, können wir leichter Verbindungen zu ihnen entwickeln, andere überzeugen. Alles fängt aber damit an, dass wir uns auch unter uns verständigen können, uns bemühen, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln.
Ginge es nur darum, die Thesen als wenig überzeugenden Beitrag zur Diskussionskultur zu kritisieren, wären sie mit der Hilfe aller Gen. sicher zu verkraften. Gravierender ist, dass vor allem der 5. Abschnitt, der sich mit einer Neukonzeption der Kommunistischen Partei und Vorstellungen für einen „neuen Sozialismus” beschäftigt, – nach meiner Meinung – nicht in erster Linie auf neue Fragen eingeht, vor denen unsere Partei steht, sondern umgekehrt hinter die Ergebnisse unserer Programmdiskussion zurückfällt und wesentliche Aussagen, die wir mit unserem Parteiprogramm erarbeitet haben, revidiert.

Meine inhaltlichen Einwände zu bestimmten Aussagen des Abschnitts 5:

Zur Neu-Konzeption der Kommunistischen Partei:
In Abschnitt 5 wird formuliert: „Die Entwicklung von proletarischem Klassenbewusstsein und der Kampf der Ideen zählen zu den wichtigsten Aufgaben einer marxistischen Partei. Die Erfahrungen zeigen, dass Klassenbewusstsein nicht durch eine Praxis entsteht, die mit dem vereinfachten Bild vom ‘Hineintragen des Klassenbewusstseins’ umschrieben werden kann. Dahinter steht eine viel ... kompliziertere Aufgabe marxistischer Theorie und der Partei. Diese besteht nicht ... in einer platten ‘ideologischen Aufklärung’, deren Inhalte von vorneherein feststehend sind und die man also annehmen kann oder auch nicht, sondern in der Kommunikation und Systematisierung von unterschiedlichen Erfahrungen und Wissen.” (S. 39)
Zu dem Begriff des „Hineintragens”, den Lenin von Kautsky übernahm und auf komplexe Weise weiter entwickelte, haben bereits Willi Gerns und Robert Steigerwald argumentiert:
Entweder haben die Autoren Lenins Aussagen zur Herausbildung proletarischen Klassenbewusstseins nicht verstanden oder sie wollen sich davon absetzen.
Lenin geht es um den Unterschied zwischen trade-unionistischem Klassengefühl und sozialistischem Klassenbewusstsein. Klassengefühl und das nur-gewerkschatliche Bewusstsein können sehr wohl spontan aus elementaren Erfahrungen der Konfrontation mit der Bourgeoisie und ihrem Staat erwachsen. Sozialistisches Bewusstsein, tiefere Einsichten in die Zusammenhänge der Klassengesellschaft, in die Notwendigkeit des Sozialismus, in sein Wesen, in Fragen der Strategie und des Weges zum Sozialismus/Kommunismus erfordern dagegen Kenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus und der marxistischen Theorie. Und es bleibt Aufgabe der kommunistischen Partei, diese anknüpfend an die elementaren Erfahrungen des Klassenkampfs den bewusstesten Teilen der Klasse zu vermitteln, sie in die Arbeiterklasse „hineinzutragen.”
Ob Lenin, Rosa Luxemburg oder Gramsci – alle sehen eben darin die Begründung für die Notwendigkeit einer eigenständigen Klassenpartei, die die Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus mit der Arbeiterbewegung verbindet. Gramcsi hat dafür den Begriff der „organischen Intellektuellen” geprägt. Damit meint er nicht eine bestimmte soziale Herkunft, sondern „das denkende und organisierende Element” der Klasse, alle aktiven Mitglieder einer kommunistischen Partei, die mit Wissen ausgestattet in Gewerkschaften, im Wohngebiet, in Organisationen und Bündnissen wirken.
Im gültigen DKP-Programm wird das so formuliert: „Als ideologische Aufgabe ersten Ranges betrachtet es die DKP, in der Arbeiterklasse Einsichten in die eigene Klassenlage und in den unversöhnlichen Gegensatz zwischen ihren Klasseninteressen und den Macht- und Profitinteressen des Großkapitals zu vermitteln ... Sie verbreitet die sozialistischen Ideen. Kommunistinnen und Kommunisten bringen Klassenpositionen in Gewerkschaften und .. Bewegungen ein. Die DKP wirkt dafür, den Einfluss der bürgerlichen Ideologie und reformistischer Positionen auf die Arbeiterklasse zurückzudrängen. Entschieden bekämpft sie Antikommunismus und Nationalismus. Unabdingbar ist die Auseinandersetzung mit rassistischen und faschistischen Positionen sowie ihren weltanschaulichen und gesellschaftlichen Ursachen.(S. 46)
Thomas Hagenhofer hat in der „Debatte” gemeint, es gehe in dieser Passage der Thesen um die Methode unserer Aufklärung. Sie solle nicht nach dem Prinzip des „Nürnberger Trichters” erfolgen. Der „Nürnberger Trichter” setzt aber voraus, dass man sich in der Praxis vom Leben der Massen separiert hat. Das Programm der DKP fordert: „Die DKP verbindet das Bemühen um Bildung und politische Aufklärung, um die Propagierung ihrer Ziele, auf das engste mit der aktiven Unterstützung und Förderung von politischer Praxis ...” (S. 46) und: „Die DKP ... wirkt in der Arbeiterklasse und mit der Arbeiterklasse für die Zukunftsinteressen der Menschheit.” (S. 48)
Marx geht auf die Frage: „Wer erzieht die Erzieher?” in seinen berühmten Feurerbachthesen ein. Er sagt dort, dass die Welt nicht nur aus der Anschauung zu erkennen sei, sondern zugleich durch Praxis: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kömmt drauf an, sie zu verändern.”
Fragt man, was denn in den Ratschlägen der Thesen zur Entwicklung von proletarischem Bewußtsein das Neue sein soll, so unterscheiden sie sich von den klaren und nicht mißverständlichen Aussagen im Programm nur dadurch, dass sie den Leninschen Begriff des „Hineintragens” als nicht ganz ernst zu nehmen interpretieren, indem sie ihn als „platte ideologische Aufklärung” übersetzen. War diese unterschwellige Stimmungmache gegen einen durch Lenin geprägten Begriff aus der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus beabsichtigt? Wieso uns das für neue Herausforderungen qualifizieren soll, bleibt das Rätsel der Verfasser.
Problematisch sind auch die Aussagen zum Sozialismus und zum Weg dorthin:
Die zunächst ausschließlich negative Abgrenzung vom bisherigen Sozialismus wurde nach heftigen kritischen Stellungnahmen noch vor der Veröffentlichung korrigiert: in Richtung der Darstellung, wie wir sie im Programm haben, das neben gravierenden Fehlentwicklungen und Schwächen auch die Errungenschaften und Stärken des bisherigen Sozialismus hervorhebt.
Dabei geht es nicht nur um Traditionsbewußtsein, obwohl auch das zu einer Kultur der kommunistischen Bewegung gehört. Es geht vor allem um eine auch für die Zukunft wichtige Frage. Wie sollen künftig neue und alte Fehler beim Aufbau des Sozialismus vermieden werden, wenn man es für überflüssig hält, auch das zu erforschen, was bei früheren Versuchen geklappt hat? Immerhin haben sich die bisherigen sozialistischen Länder zwischen 40 und 70 Jahre lang gehalten. Das läßt sich von den frühen bürgerlichen Revolutionen in der Regel nicht sagen. Sie brauchten viele Jahrhunderte, um sich durchzusetzen.
Die Einwirkung der Jahrzehnte der Sowjetunion auf die Weltgeschichte hat Spuren hinterlassen, die auch heute noch wirksam sind, etwa in Form der Niederlage des deutschen Faschismus oder in Form der kolonialen Befreiung.
Auf der anderen Seite hinterlassen Fehlentwicklungen und schließlich der Zusammenbruch des bisherigen Sozialismus in Europa eine für längere Zeit lähmende Wirkung, vor allem in den reicheren kapitalistischen Ländern.
Wichtig ist, historische Prozesse in ihrer Widersprüchlichkeit zu erfassen. Nur dann kann aus ihnen gelernt werden. „Selbsthaß”, so nannte es der italienische Philosoph Losurdo, ist kein Lernprozeß, sondern eine Form von Verdrängung.
Man kann sein Erbe nicht halb annehmen. Man hat es, im Positiven wie im Negativen und wird es weiter verarbeiten müssen, moralisch und analytisch. Die Beflissenheit, sich ja nicht „dem Verdacht auszusetzen”, man habe mit dem Sozialismus der Vergangenheit zu tun, nützt rein gar nichts. Pure Distanzierung macht nicht glaubwürdiger. Sie führt auch nicht schneller zu Einfluss. Dann müßten die KPs, die sich schon immer distanziert haben, heute sehr stark sein.
Laut Thesen sollen wir uns an den „Entwurf eines mehrheitsfähigen Projekts einer emanzipatorischen, nichtkapitalistischen Gesellschaftsordnung, des Sozialismus im 21. Jahrhundert” machen. (S. 41)
Unser Parteiprogramm geht nicht davon aus, dass der Sozialismus sich durchsetzt, indem die Menschen sich aus einer Angebotspalette von attraktiven Entwürfen das attraktivste „Modell” aussuchen. Diese Vorstellung haben Marx und Engels in ihrer Kritik am utopischen Sozialismus verworfen. Unser Programm geht davon aus, dass sich die Notwendigkeit des Sozialismus aus den Widersprüchen des Kapitalismus und im Ergebnis von Klassenkämpfen ergibt. Das Austragen widerstreitender materieller Interessen, vor allem der antagonistische Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, sind die Triebkraft, wenn auch kein Automatismus einer Entwicklung zum Sozialismus.
Die Arbeiterklasse kann aufgrund ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Produktion, ihrer Verbundenheit mit den fortgeschrittensten Produktionsmitteln Trägerin eines gesellschaftlichen Fortschritts sein, der vor den Schranken des Privateigentums nicht halt macht. Vorraussetzung ist, dass sie ihre Potenzen erkennt und den Willen aufbringt, sie in die Waagschale zu werfen.
Auch andere soziale Kräfte können wichtige Anstöße geben und viel zu einem revolutionären Prozess beitragen. Doch ohne die Arbeiterklasse, die Schöpferin des Mehrprodukts der Gesellschaft, ist Sozialismus nicht machbar. Daher zählt unser Programm zu den Grundlagen des Sozialismus die politische Macht der Arbeiterklasse im Bündnis mit anderen demokratischen Kräften. Revolution bedeutet für uns einen Wechsel von der Klassenmacht der Bourgeoisie zu einer neuen Klassenmacht unter der Hegemonie der Arbeiterklasse.
Marx bezeichnete dies als „Diktatur des Proletariats”, was für ihn gleichbedeutend war mit der „Erkämpfung der Demokratie”.1 Im Manifest verwendet er beide Begriffe synonym. Den Marxschen Begriff der „Dikatur des Proletariats” übersetzen wir in unserem Programm mit der „politischen Macht der Arbeiterklasse”. Das ist keine Aussage über eine bestimmte Regierungsform, sondern über den Klasseninhalt der politischen Macht.
Die Regierungsformen bilden sich im Verlauf des Kampfs um die Eroberung der Macht heraus. Die Verlaufsformen sind nicht allein abhängig von den Bestrebungen der aufsteigenden Klassen und ihrer Verbündeten, sondern auch von der Art des Widerstands der absteigenden Klassen. Die Funktion des bürgerlichen Staats, die Reproduktionsbedingungen des Kapitals, wenn nötig, auch mit seinen Repressionsapparaten zu sichern, bleibt in den Thesen völlig ausgeblendet. Gen., die dieses Defizit benannten, wurden in der Debatte als „Revolutionsromantiker” verspottet.
Die Programme der DKP seit 1969 betonen das Streben nach einem friedlichen Übergang als dem für die arbeitende Bevölkerung günstigsten Weg. Sie nennen Bedingungen, unter denen er realisierbar sein kann. Alle heutigen revolutionären Prozesse in verschiedenen Ländern der Welt zeigen, wie aktuell diese auf historischen Erfahrungen basierenden Vorstellungen sind. Jeder dieser Prozesse bereichert unser Wissen.
Dagegen suggerieren die Thesen mit der Losung der permanenten „Demokratisierung” eine scheinbar einfachere Lösung. Sie wollen „das ‘ganz Andere’: anders arbeiten – anders leben – ein anderes Verhältnis der Menschen zueinander und zur Natur.” (37) Verheißen wird, das „ganz Andere” sei als permanente Demokratisierung und Emanzipation auch im Hier und Jetzt schon ein bißchen zu haben. Das kommunistische Ziel der „Assoziation, worin die freie Entfaltung eines jeden die Bedingung für die freie Entfaltung aller ist”, sei damit ein Stück weit aus der „Ferne” in die Gegenwart zu holen. Richtig daran ist, dass wir Erfahrungen der Solidarität, der eigenen Kraft, der Entfaltung von individuellen und kollektiven Fähigkeiten in Diskussion und Praxis unserer Partei oder in Bündnissen schon im Kampf für Veränderungen machen. Wir entwickeln dabei unsere eigene Kultur und Organisation. Gute Beispiele waren die Kreativität und Breite unserer vielen Veranstaltungen zum 8. März in diesem Jahr.
Einige erinnern sich vielleicht an die Sponti-Losung der 80er Jahre: „Wir wollen alles – und das jetzt!” Oder auch an Eduard Bernsteins Auffassung: „Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts.” - Ein revolutionäres Programm brauchen wir, damit das, was wir in der Gegenwart tun, als Schritt zum Ziel erkennbar ist. So können wir um Teilziele besonders konsequent kämpfen, weil wir die möglichen nächsten Schritte schon reflektieren.
Eine Unterscheidung von Reform und Revolution, von Etappen des Kampfes ist in den Thesen nicht zu finden. Alles geht als „Demokratisierung” ineinander über. Grundlagen des Sozialismus werden nicht benannt. Keine Spur von der Dialektik von Reform und Revolution. Beide scheinen identisch zu sein. Zwar ist abstrakt von revolutionären Brüchen die Rede, das heißt, vom Umschlag quantitativer in qualitative Veränderungen. Doch fehlt ein Bezugsrahmen für qualitative Veränderungen, da weder die Grundlagen des Sozialismus noch Etappen auf dem Weg dorthin anvisiert werden.
Das Neue im Vergleich zum Programm ist eher ein Defizit: das Fehlen einer wissenschaftlich begründeten und auf historischen Erfahrungen fußenden revolutionären Strategie zur Überwindung des Systems. Auch unser Programm fordert mehr Demokratie und erweiterte Mitbestimmungsmöglichkeiten in Politik und Wirtschaft. Doch selbst die beste bürgerliche Demokratie wäre noch kein Sozialismus.
Mit dem Defizit an Strategie gehen Wissen und Klarheit verloren. In den Thesen taucht der Begriff „Diktatur” an vielen Stellen auf. Nicht als Kritik an der „Diktatur der Bourgeoisie”, sondern als Mahnung an uns selbst, jeder Art von Zwang abzuschwören. Stehen wir vor einer Machtübernahme? Oder geht es hier um die Tabuisierung des Begriffs der „Diktatur des Proletariats”? Walter Listl antwortet Willi Gerns in der Debatte: „Es mag ja sein, dass es, wie Willi schreibt, diesen Diktaturbegriff im wissenschaftlichen Verständnis der marxistischen Staatstheorie gibt, aber dieses Verständnis fand nun mal keinen Eingang in unser Programm.” Das Programm wird rückwirkend neu interpretiert, im Geist der Thesen.
Soll wirklich bei Gramsci gelernt werden? Der Begriff der „führenden Rolle” (im Programm) ist in den Thesen durch den der „Hegemonie” ersetzt. Für Gramsci ist Herrschaft Hegemonie und Zwang: „Eine gesellschaftliche Gruppe ist herrschend gegenüber den gegnerischen Gruppen, die sie auszuschalten oder auch mit Waffengewalt zu unterwerfen trachtet, und sie ist führend gegenüber den verwandten und verbündeten Gruppen. Eine gesellschaftliche Gruppe kann und muss sogar bereits führend sein, bevor sie die Regierungsmacht erobert (das ist eine der Hauptbedingungen für die Eroberung der Macht); danach, wenn sie die Macht ausübt und auch fest in Händen hält, wird sie herrschend, muss aber weiterhin auch führend sein.“ (Gefängnishefte 8, 1947. Für Gramsci, der der Gefängniszensur unterlag, steht Gruppe für Klasse)

Eine neue programmatische Plattform?

Mit den Thesen wurde eine neue programmatische Plattform neben dem Parteiprogramm in die Welt gesetzt. Wir haben somit jetzt ein Parteiprogramm plus zwei entgegengesetzte programmatische Plattformen: die „Thesen” und das Papier der 84er. Beide sagen von sich, dass sie das Parteiprogramm nicht ändern wollen, könnten aber gegensätzlicher nicht sein. An der Existenz mehrerer Plattformen ändert sich nichts dadurch, dass die Befürworter der Thesen im Parteivorstand sich selbst als „Mehrheitsfraktion” sehen und manchmal auch bezeichnen. Ein Selbstverständnis, das, wie ich glaube, auch mit dem Programm kollidiert.
Im Programm heißt es: „Die Mitglieder der DKP lassen sich von dem Grundsatz leiten, dass nur ein einheitliches, von der ganzen Partei getragenes Handeln das Unterpfand ihrer Aktionsfähigkeit und Stärke ist. Voraussetzung dafür ist die solidarische Diskussion und die Erarbeitung von Übereinstimmung.” (Prinzipien des innerparteilichen Lebens, S. 47)
Erarbeitung von Übereinstimmung müßte normalerweise mit einer kollektiven Diskussion auf der Ebene von Leitungen beginnen, und damit, dass Vorlagen für wichtige Beschlüsse von gewählten Arbeitsgruppen erarbeitet werden, die auch mit Vertretern unterschiedlicher Positionen zusammengesetzt sein können. So war dies bei der Erarbeitung unseres gültigen Parteiprogramms.
Doch wer die Thesen entworfen hat, ist bis heute nicht bekannt. Man sagt, dass das Sekretariat den Entwurf diskutiert hat. Bekannt ist auch, dass er mit einzelnen Bezirksvorsitzenden zuvor konsultiert wurde: Thomas Hagenhofer, Bezirksvorsitzer des Saarlands wurde voher konsultiert. Marion Köster, die Vorsitzende des größten Bezirks der DKP, wurde vorher nicht konsultiert.
Gegen die Thesen zur Neukonzeption der Kommunistischen Partei und des Weges zum Sozialismus brachten eine Reihe von Genossinnen und Genossen in Briefen an das Sekretariat und an einzelne PV-Mitglieder vor der 9. PV-Tagung Einwände vor. Am ersten Tag der PV-Tagung wurden die Thesen dann als Hauptantrag an den nächsten Parteitag zurückgezogen und auf eine theoretische Konferenz im Jahr 2011 verschoben.
Die 10. PV-Tagung im März beschloß inzwischen für den bevorstehenden Parteitag den Entwurf einer politischen Resolution, mit den Stimmen aller PV-Mitglieder des Bezirks Ruhr-Westfalen. Auch der Bezirksvorsitzende der DKP Hamburg Olaf Harms stimmte zu. Es gab eine Gegenstimme. Das zeigt, dass der Vorrat an Gemeinsamkeiten in der Politik der DKP nach wie vor groß ist. Die Resolution respektiert das Parteiprogramm und eignet sich daher als Grundlage, auf der die ganze Partei diskutieren und Änderungsanträge einbringen kann.
Damit sind die Thesen nicht vom Tisch. Sie werden weiter diskutiert werden. Dabei muss erreicht werden, dass die inhaltlichen Differenzen in der Sache ausgetragen werden, nicht in Form eines Kräftemessens feindlich gegenüber stehender Lager. Die KDK Essen hat für die theoretische Konferenz 2011 den Verfahrensvorschlag entwickelt, anhand von Themen, das heißt, an der Sache zu diskutieren, nicht anhand von zwei sich gegenüber stehenden programmatischen Plattformen, in Form von „Thesen” und „Gegenthesen”. Letzteres würde die Meinung zahlreicher Mitglieder, die keiner Plattform angehören wollen, übergehen.
Wir sind Mitglieder einer Partei, deren Programm auf der Theorie von Marx, Engels und Lenin basiert. Wir haben den Anspruch, unsere Politik auf der Basis der Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus zu entwickeln und dabei unser Wissen ständig weiter zu entwickeln. Dass bei dem Versuch, sich neuen Herausforderungen zu stellen, Fehler gemacht werden, ist normal. Schlimm wäre es, wenn Fehler nicht in einer kollektiven Diskussion korrigiert werden könnten.
Beate Landefeld
(Der Beitrag erschien auch in der Thesendebatte auf kommunisten.de)
Anmerkungen: 
1Marx verknüpft diesen Begriff, den er von früheren revolutionären Führern übernahm, mit seinem Beitrag zur Entwicklung der Klassentheorie: Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.“ (Brief an Weidemeyer, MW 28, S. 507)

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